Die Sache mit den Introvertierten

Die Kernthese vorweg: der Lockdown 2020 und 2021 hat uns eine Erfahrungswelt beschert, die extravertierte und introvertierte Mitarbeitende gleichmäßig auf der Bildfläche erscheinen lässt. Die Frage dazu: könnte sich das auch in Zukunft lohnen? Und was ist dafür zu tun?

Regeln-Online-Collaboration

Lehren aus dem Lockdown

Unzählige Online-Meetings, Workshops, Seminare und Coachings während der Corona-Krise haben gezeigt: wir können auch in Distanz arbeiten. Nur fühlt es sich anders an. Nicht jeder vermisst allerdings den engen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Nicht jeder vermisst unproduktive Sitzungen, in denen er oder sie sich nicht oder nur selten zu Wort gemeldet hat. Nicht jeder vermisst ein Umfeld, in dem Kollegen das Wort ergreifen um zu reden, nicht um etwas zu sagen. Andere hingegen fremdeln mit der digitalen Welt. Weil sie nicht mehr erlaubt, den Raum zu dominieren, sondern über Technologien, Prozesse und Time-Boxes den Inhalt voranbringt. Nicht mehr die persönliche Aufmerksamkeitsagenda.

Persönlichkeitseigenschaften

Ob man eher zu der einen oder anderen Gruppe zählt entscheidet auch eine Persönlichkeitseigenschaft mit den beiden Polen Extraversion und Introversion. Persönlichkeit wird dabei als die Menge mittel- bis langfristig stabiler Unterschiede im Erleben und Verhalten verstanden. Die psychologische Forschung unterscheidet fünf Dimensionen der Persönlichkeitsunterschiede, die sich in faktoranalytischen Studien stabil als solche herausgestellt haben: Ängstlichkeit, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und eben Extraversion (vs. Introversion).

Introversion vs. Extraversion

Introvertierte Persönlichkeiten zeichnen sich in Personalauswahlverfahren oft dadurch aus, dass sie in Gruppenaufgaben selten das Wort ergreifen. Nach einer Selbsteinschätzung bei solchen Aufgaben gefragt, kommt häufig als Antwort: „Die Gruppendiskussion lief super, unser Ergebnis ist gut, andere haben genau das gesagt, was auch ich auf dem Zettel stehen hatte.“ So lange die Leistung einer Gruppe gut ist, gibt es für die oder den Introvertierte*n keinen Grund, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für extravertierte Persönlichkeiten schon. Sie glauben gerade gestorben zu sein, wenn sie sich selbst als mehr zuhörend denn redend erfahren. Sie stehen gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, auch wenn es eigentlich nichts zu sagen gäbe. Und sie sind einer der Gründe, warum Dienstberatungen und Meetings oft keinen produktiven Verlauf nehmen. Es wird dann weniger um die Sache als um Aufmerksamkeit, Wirksamkeit und Wertschätzung gestritten.

Extra- und Introversion sind in sich weder gut noch schlecht, sie beschreiben die Pole eines normalverteilten Kontinuums. Introvertierte haben es schwerer, sich in einer Welt der Assessment Center und Offline-Dienstberatungen durchzusetzen. Sie fallen häufig nicht auf, außer durch Arbeitsergebnisse. Sie leben in einer Welt, die Extraversion wertschätzt und befördert. Corona hat das geändert.

In Videokonferenzen oder Online-Workshops ist der freie Raum, den Extravertierte zielsicher sofort besetzen, schlicht nicht vorhanden. Es fehlen die Zwischenrufe, die Scherze, kurz: alles, was der effektiven und effizienten Arbeit im Wege steht. Breakout-Gruppen werden zufällig erstellt, Redezeiten werden in Time-Boxes verpackt, Entscheidungsfindung wird prozessual angelegt. Natürlich kann online immer noch dominiert werden. In offenen Runden äußern sich immer noch die selben Personen. Nur sind sie über den Tag verteilt weniger sichtbar.

Wie wird Normal-Reloaded?

Ist das gut oder schlecht? Nun, es ist anders. Auf der Sachebene kommen solche Teams oft in unglaublich kurzer Zeit zu unglaublich guten Ergebnissen. Natürlich fehlt Online-Konferenzen vieles, die Ergebnisqualität ist es nicht. Das legt die Vermutung nahe, dass wir von der Lockdown-Zeit etwas herübernehmen könnten, in das Normal-Reloaded, das uns nach der Pandemie bevorsteht. Sicher werden wir hybrider arbeiten, öfter online. Aber wie wäre es, wenn auch offline Meetings effizienter und sachorientierter ablaufen würden?

Dafür ist nicht so viel zu tun und auch nicht so viel zu schreiben. Im Zuge der Nerdisierung der Beratungsindustrie und der Proklamation von Agile zu dem Königsweg der projektbezogenen Arbeitsweise hat sich das dafür nötige Wissen bereits in Organisationen verbreitet. Agile ist eine Arbeitsform, die Introvertierte und Extravertierte gleichwürdig auf die Bühne treten lässt – und Hierarchie nach hinten. Was wäre also ohne größeren organisationalen Wandel zu tun?

5 Ideen für das Normal-Reloaded

  1. Dienstberatungen und Meetings sollten moderiert werden. Nicht von der Person, die dazu einlädt.
  2. Sie sollten eine Agenda haben und dieser auch folgen – am besten über Time-Boxes.
  3. Um Introvertierte besser einzubinden, lohnt sich eine Anfangsrunde nach dem Daily-Scrum-Prinzip: jeder stellt den eigenen Arbeitsstand sehr kurz (2min.) vor.
  4. Kleingruppenarbeit erhöht die Beteiligung ebenso wie die Redewahrscheinlichkeit jedes Einzelnen. Sie lohnen sich aber erst in großen Arbeitsgruppen (ab 15 Mitarbeitenden).
  5. Verschriftlichung und Visualisierung helfen nicht nur im digitalen Raum die Aufmerksamkeit zu organisieren, aufrecht zu halten und zu enthierarchisieren. Ideen die nebeneinander stehen wirken gleichwürdig.

Gerne unterstützen wir Sie bei der Umsetzung dieser Ideen:

Literatur

Goldberg. (1990). An Alternative „Description of Personality“: The Big-Five Factor Structure. Journal of Personality and Social Psychology, 59 (6), 1216-1229.

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